Was ist Hausarztmedizin?

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Hausarztmedizin ist nicht etwa „Medizin light“. Hausarztmedizin ist „Facharztmedizin plus“.

Sie ist Facharztmedizin, weil heutzutage eigentlich alle Hausärzte Fachärzte für Allgemeinmedizin oder Fachärzte für Innere Medizin sind. Diese Facharztausbildungen dauern teilweise deutlich länger und sind deutlich umfangreicher als die Facharztausbildungen der sogenannten „kleinen Fächer“ der organbezogenen Fachärzte.

Sie ist Medizin Plus, weil sie Medizin für den Patienten ist, für den Menschen mit all seinen Bezügen und Bedürfnissen, partizipativ und konsensuell in ihren Methoden, ihrer Entscheidungsfindung und ihrer Kommunikation.

Sie berücksichtigt die Werte des Patienten, sein Risikoempfinden, seine Sicht der Dinge, gerade in der primären und sekundären Prävention, in der Schmerzmedizin und in der Onkologie. Sie ist mehr als die Anwendung von Leitlinien oder Behandlungspfaden, Hausarzt sein heißt Arzt sein, und nicht nur Mediziner sein.

Oft stehen sich Lebensqualität und durch Medikamente oder sonstige Maßnahmen theoretisch erreichbare zusätzliche Lebenszeit diametral entgegen, nicht nur in der Onkologie, sondern erst recht in der Geriatrie, in der alltäglichen Schmerzbehandlung und in der medikamentösen Präventionsbehandlung.

Hausarztmedizin muss und kann aushalten, wenn die Medizin nichts machen kann, wenn der Patient nichts machen will. Blinder Aktionismus ist nicht das Wesen der Hausarztmedizin, das Abwägen von Nutzen und Risiko, die Würdigung des Wunsches des Patienten, das Akzeptieren der Entscheidung eines Patienten ist ihr Wesen.

Wie oft hören wir den befremdlichen Satz: der Doktor hat gesagt, ich muss dieses Medikament nehmen….Woher soll diese Verpflichtung kommen? Entweder, ich kann einem Patienten darlegen, dass der Nutzen einer Maßnahme höher ist als ihre Schadwirkung, dann wird sich der Patient in der Regel für den besseren Weg entscheiden. Oder es ist ihm etwas so wichtig, dass der eine andere Entscheidung trifft. Dann erfordert der Respekt vor seinem Wertesystem ein Akzeptieren der Entscheidung.

Bei vielen Medikamenten, die als „signifikant wirksam“ beworben werden, müssen 100 Patienten den Wirkstoff ein Jahr einnehmen, um einen Erfolg zu erzielen, der dann möglicherweise nur in der Vermeidung eines Krankenhausaufenthaltes besteht und sonst keinen Nutzen hat. Wollen wir es einem Patienten übel nehmen, wenn er sagt: da sehe ich nicht ein?

Und schadet der Patient durch seine Weigerung dann der Gesellschaft, weil er verhindert, dass z.B. 100.000 Euro Medikamentenkosten entstehen, um drei Tage Krankenhaus zu vermeiden?

Für diese Sichtweise gibt es sogar mathematisch-statistische Kennzahlen, die Number needed to treat, die offenbart, wie viele Patienten ich wie lange behandeln muss, um einen Nutzen zu erzielen, und die Number needed to harm, die sagt, wie viele ich behandeln muss, um einen Schaden durch Nebenwirkungen zu setzen.

Und die Kosten für die Schaffung eines zusätzlichen, lebenswerten Lebensjahres, was ja das hohe Ziel der Medizin ist oder sein müsste, und sich insofern auch von den Kosten her darstellen lassen sollte.

Von der Werbung hört man aber immer nur die „relative Risikorektion“ in Studien, wenn die Industrie die oben genannten Zahlen nennen müsste, wären unsere Praxen wahrscheinlich frei von Pharmaaußendienstlern.

NNT, NNH und Kosten pro Qualy sind die Kennzahlen, die für den Patienten, die Krankenkasse und die Gesellschaft relevant sind.

Es sind nicht die Kennzahlen, die von der Pharmawerbung immer genannt werden, also die relative Risikoreduktion der Studien.

Diese Zahlen, die oben genannten NNT, NNH und die Kosten pro Qualy, in dieser Bezeichnung oft wenig verstanden oder bekannt, sind der mathematische Ausdruck der für den Patienten „erlebten“ Medizin. Sie sind eine spezifische Sichtweise der Hausarztmedizin, ein von „Spezialisten“ unverstandenes Spezialgebiet der Medizin.

Dieses Spezialgebiet setzt kommunikative Fähigkeiten und Empathie für den Patienten voraus, und Methodenkenntnis der der Bewertung der Lebenswirklichkeit und Teilhabe des Patienten, wie es beispielhaft das Assessment in der Geriatrie oder die Messung der Lebensqualität im EQ5d vormachen. Diese Sichtweise setzt auch eine Selbstreflektion des Arztes in seiner Rolle voraus.

Wie wichtig die Darstellung dieser Zusammenhänge ist, zeigt die tägliche Impfaufklärung der Corona-Pandemie, die ja auch an der Corona-Front von den Hausärzten geleistet wird. Von abstrakten Zahlen wegzukommen und klar zu machen, dass z.B. das Risiko, an Covid zu erkranken und wegen der Erkrankung eine Thrombose zu erleiden, viel höher ist als das Risiko, dass dies durch eine Impfung geschieht, ist nichts anderes als eine praktische Anwendung dieser Zahlen.

Die Front der Pandemiebekämpfung in Deutschland waren und sind die Hausärzte, eine stille und wenig beachtete Armee, die mit hohem Risiko und Einsatz die Corona-Sprechstunden getragen hat, den Löwenanteil der Erkrankten behandelt hat, in der Praxis, in den Heimen, bei Hausbesuchen, immer dem Infektionsrisiko ausgesetzt, in zahllosen Überstunden, die keiner zählt, Selbständige dürfen sich ungeschützt ausbeuten.

Und die nun die Impfungen schultern, mit unsäglich hohem Aufwand, wer beziffert denn den Schaden, den die Praxis erleidet, wenn sie 100 Patienten zur Impfung einbestellt und 80 wieder absagen muss, weil der zugesagte Impfstoff nicht geliefert wird – oft ohne Ankündigung, am Impftag sind einfach nur 20 Dosen in der Lieferung, und 100 Menschen werden eine oder zwei Stunden später kommen.

Hausarztmedizin ist Medizin mit einem Qualitätssiegel. Sie ist nicht lediglich die Anwendung von Leitlinien auf den Patienten, sondern sie erfüllt Kriterien der Qualität, wie sie aus dem Qualitätsmanagement bekannt sind. Sie berücksichtigt nämlich alle Aspekte des „gesellschaftlichen Ereignisses Krankheit“, sie bewirkt die Stakeholder Compensation, wie es im QM-Kauderwelsch heißt, also einen Interessensausgleich aller Beteiligten.

Kurzum: Hausarztmedizin bewirkt die persönliche, umgebungsbezogene, finanzielle und gesellschaftliche Machbarkeit der Medizin.

Insofern ist Hausarztmedizin nicht nur Medizin, sie ist auch Heilkunde.

Hausarztmedizin ist nicht „gate-keeping“, ist nicht Lotsenfunktion, ist nicht Koordination anderer Akteure und nicht Terminvermittlung zum Spezialisten.

Hausarztmedizin ist umfassende Problemlösung unter Berücksichtigung der konsiliarischen Befunde der spezialisierten Gebietsärzte, und kritische Umsetzung von Leitlinien- und evidenzbasierten Behandlungskonzepten, insbesondere bei Multimorbidität, insbesondere in der Geriatrie und da ganz besonders bei der Pharmakotherapie.

– Christof Heun-Letsch, Ludwigshafen

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